Mayane wachte plötzlich auf, mitten in der Nacht. Sie hob den Kopf und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Es schien, als sei das Echo der Stimme, die sie in ihrem Traum gehört hatte, immer noch da. "Du wirst nie bekommen, was du willst".
Aber wessen Stimme war das?... Sie schien vertraut und fremd zugleich zu sein. Mayane fühlte sich unwohl. Dieser Traum schien wichtig zu sein, aber sie konnte sich nicht erinnern, worum es genau ging.
Auf einer Matratze in der Nähe wälzte sich Yarune hin und her. Mayanes Schwester träumte ebenfalls, und ihrer Miene nach zu urteilen, auch einen Albtraum.
Mayane versuchte noch einmal, sich zu konzentrieren und sich an etwas zu erinnern. Das einzige Bruchstück, das in ihrer Erinnerung auftauchte, war eine riesige, dunkle Wasserfront, die an Land schlug. Solche Wellen hatte sie noch nie gesehen. Woher sollten sie kommen?
Das Gefühl des drohenden Unheils ließ Mayane bis zum Morgengrauen nicht einschlafen, das zu ihrer Erleichterung auch bald kam. Als sie aus der Jurte trat, sah sie sich um. Das Dorf erwachte, andere Heidrun standen ebenfalls auf und schauten in den Morgenhimmel, in der Erwartung, dass der Glücksstern oder andere Zeichen, die Glück oder Unglück verheißen, erscheinen würden. Doch diesmal war der Himmel still.
Mayane wusste, dass ihr Volk das Glück verehrte. Sie glaubten auch, dass das Glück seinen Blick auf diejenigen richtet, in die es sich verliebt hat. Und der beste Weg, damit sich das Glück in einen verliebt, ist, so zu leben, als gäbe es kein Morgen. Deshalb versuchten die Heidrun, im Augenblick zu leben und nicht an die ferne Zukunft zu denken, denn das Glück kann sich in jedem Augenblick abwenden. Niemand weiß, was morgen auf ihn zukommt.
Aber jetzt reichte ihr das nicht mehr - sie bekam diesen Traum nicht mehr aus dem Kopf. Sie wusste, dass andere Völker an Vorhersagen glaubten, an Visionen der Zukunft, die man richtig deuten und somit etwas im Voraus tun konnte.
Natürlich, warum sollte man über die Zukunft nachdenken, wenn man in einem grünen Tal lebt, das von den Flammen des Muspell gewärmt wird und in dem es keine Probleme und Sorgen gibt? Selbst die plötzlichen und brutalen Angriffe der Urun schienen unvermeidlich, wie eine Naturkatastrophe. Aber außerhalb des Tals wehten kalte Winde, und die Fähigkeit, die Zukunft zu kennen, war dort viel wichtiger.
"Iriko!", dachte Mayane. Der alte Weise könnte helfen. Er sah mehr als die meisten Heidrun und stammte von Ilko selbst ab. Der Ilko, der einst dem Ruf anderer Völker gefolgt war und seinen Stamm in einen Krieg geführt hatte, der ihnen allen lange Jahrhunderte des Friedens bescherte.
Sie fand ihn genau dort, wo sie ihn erwartet hatte. Der alte Heidrun stand am Rande des Tals und blickte aufmerksam in die Ferne.
"Ich hatte einen Traum", sagte Mayane leise. "Etwas ist in der Welt passiert."
"Es passieren viele Dinge auf der Welt, Kind", bemerkte Iriko, ohne sich umzudrehen. Er hatte dieses Gespräch sicherlich erwartet.
"Aber können diese Visionen wahr sein? Und was erwartet uns?"
"Unsere Freunde glauben das. Einst sagte Seyda die Ankunft des großen Nichts voraus. Aber es gab auch einen Teil ihrer Prophezeiung, der unverstanden blieb."
"Das Schicksal ist tückisch!
Jahrhunderte sind vergangen
Unheil wird hereinbrechen
Dunkelheit die Welt beherrschen.
Ich sehe es, ganz klar:
Der große Baum verdorrt,
Ein alter Feind erwacht
Die Toten ohne Ruhe!
Die tödliche Kälte wird kommen
Wie auch Feinde, ungezählt
Deren Fell wie Schnee,
Ich sehe es durch die Zeit."
— Mayane zitierte aus dem Gedächtnis. Natürlich erinnerte sie sich an diese Verse. Jeder auf dieser Insel kannte sie. - "Sind diese Zeiten wirklich gekommen?"
"Du kannst es selbst sehen, Kind", sagte Iriko und zeigte nach oben. Mayane hob ihren Kopf. Dort, über dem Horizont, der den Himmel bedeckte, erhob sich der Große Baum, dessen Krone leuchtende Fäden ausstrahlte, die den gesamten sichtbaren Raum bedeckten und sich weit in alle Richtungen erstreckten.
Und mit Tränen in den Augen sah sie etwas anderes. Ein verwelktes Blatt, das herumwirbelte und auf sie zu fiel.